Interview mit Michael Leydecker, Suchtberater und Dipl. Psychologe/PPT, Tannenhof Berlin-Brandenburg gGmbH

„Suchtberatung funktioniert über Beziehungsaufbau“

Michael Leydecker, Diplom-Psychologe und approbierter Psychologischer Psychotherapeut, ist Abteilungsleiter des „Tannenhof Berlin-Brandenburg“. Die größte Zielgruppe, etwa 65-75 % der Personen, wendet sich wegen Alkoholproblemen an die Suchtberatungsstelle, gefolgt von Cannabis (THC)- und Amphetaminnutzer:innen. Die Teams des „Tannenhof Berlin Brandenburg“ sind an mehreren Standorten in verschiedenen brandenburgischen Landkreisen aktiv. Sie beraten Frauen, Männer und Jugendliche mit stoffgebundenen und stoffungebundenen Süchten (z.B. Glücksspiel- und Medienabhängigkeit) sowie deren Angehörige. Am Rande spielen auch Medikamentenmissbrauch, Essstörungen, Kauf- und Sexsucht eine Rolle. Davon sind maximal ein bis drei Prozent der Hilfesuchenden betroffen.

Herr Leydecker, mit welchen Anliegen kommen Menschen zu Ihnen in die Suchtberatung?

Zu uns kommen Menschen in Krisen – die meisten erst relativ spät in einem fortgeschrittenen Missbrauchsstadium oder wenn durch die Sucht bereits Einschränkungen im Alltag entstanden sind. Etwa, wenn der Führerschein in Gefahr ist oder Glücksspielschulden immer drückender werden. In unserer Gesellschaft ist Sucht mit abwertenden Zuschreibungen belegt. Die Thematik ist sehr schambesetzt. Oft verstreichen etliche Jahre, bis Unterstützung gesucht wird. Bei vielen ist ein Schlüsselerlebnis der Auslöser. Das kann das Kind sein, das zur Mutter oder zum Vater sagt: „Du riechst immer nach Bier“. Oder ein Arbeitgeber, der das Problem anspricht, weil jemand jeden Tag mit einer Fahne zur Arbeit kommt. Den ersten Schritt in die Suchtberatung tun meistens Familienangehörige oder Freund:innen von Betroffenen. Menschen kommen zu uns, weil sie etwas verändern möchten. Wir klären, was ihr Anliegen ist und wo es bei komplexen Problemlagen andere Dienste braucht. Insofern verstehen wir uns auch als Clearingstelle und als Case-Manager:innen, die gut vernetzt sind und die Strukturen vor Ort kennen.

Worum geht es in der Suchtberatung?

Wir beraten ziel- und ergebnisoffen. Motivationsarbeit ist dabei ein ganz wesentliches Element. Es geht um Fragen wie: „Welche Dinge will ich verändern?“, „Was bin ich bereit dafür zu investieren?“ und „Welche Ziele will ich erreichen?“. Es kann sein, dass dazu ein erstes Gespräch ausreicht. Es kann auch drei bis fünf Termine brauchen, um zu klären, was das Anliegen und der eigene Weg ist. Dafür ist es wichtig eine Beziehung aufzubauen: Beratung funktioniert über Beziehungsaufbau. Wir führen Gespräche auf Augenhöhe.

Welche Rolle spielen Sie dabei als Berater?

In den Begegnungen bin ich als Berater ein Stück weit Vorbild und Modell, zum Beispiel in der Klarheit, wie ich Gefühle aus- und anspreche. Dabei wahre ich die Neutralität, um niemandem etwas überzustülpen. Es geht auch um Stabilisierung und darum, Türen zu öffnen, Wege einzuleiten oder darauf hinzuweisen: „Da gibt es jemand, an den kannst du dich wenden.“ Wir begleiten lösungsorientiert und leisten, auch wenn es etwas abgedroschen klingt, Hilfe zur Selbsthilfe. Das steht im Vordergrund.

Worin liegt das Potenzial der Suchtberatung?

Wir sind für alle Bürgerinnen und Bürger da. Wir arbeiten nicht nur kurativ, sondern machen auch Präventionsangebote, zum Beispiel Bildungsarbeit in Kitas und Schulen. Prävention heißt: Kinder frühzeitig in ihrer Entwicklung zu fördern und so Sucht vorzubeugen. Suchtberatung sollte zur Grundversorgung gehören und als Pflichtleistung anerkannt werden. Aktuell müssen wir immer wieder um die Finanzierung kämpfen.